Wirksames Risikomanagement erfordert Kenntnis der Gefahren
Der demographische Wandel in der Bevölkerung zwingt Medizin und Zahnmedizin speziell im Bereich der altersgerechten flächendeckenden Versorgung nicht nur wegen der schwierigen Finanzierbarkeit durch steigende Kosten bei eher sinkenden Einnahmen zum Umdenken und zur Entwicklung neuer Konzepte. Unter den 27 EU-Staaten wird Deutschland nach einer Untersuchung von Eurostat im Jahr 2030 mit 46,2 Prozent “Rentneranteil” mit Abstand das demografisch am meisten belastete Land der Union sein. Es leuchtet ein, dass mit einer zunehmenden Alterung der Gesellschaft auch die Gesundheitsrisiken wachsen und deshalb ein entsprechendes Risikomanagement frühzeitig etabliert werden muss.
Speziell der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde kommt im Zusammenhang mit altersbedingten Erkrankungen eine wichtige Rolle zu, denn die Wechselwirkung zwischen Erkrankungen des Mundraums und denen des Gesamtorganismus sind mittlerweile wissenschaftlich evident. Sehr viele interessante Aspekte liefert hier die “Study of Health in Pomerania” (SHIP), eine bevölkerungsbezogene, epidemiologische Studie in der Region Vorpommern im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Dabei konnten umfangreiche Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Zahnerkrankungen und Erkrankungen wie etwa denen des Herz-Kreislauf-Systems, Diabetes mellitus, psychischen Erkrankungen oder Schmerzsyndromen festgestellt werden. Aktuell werden in der seit Ende der 90er Jahre laufenden Studie ursächliche Zusammenhängen zwischen Zahnerkrankungen und solchen Erkrankungen untersucht.
Gut belegt ist auch die Wechselwirkung von Erkrankungen des Mundraums mit anderen Körperregionen schon heute bei der craniomandibulären Dysfunktion (CMD). Verspannungen und Schmerzen der Kau-, Gesichts- und Halsmuskulatur,
Kiefergelenkschmerzen und -geräusche sowie Dyskoordinationen und Einschränkungen der Unterkieferbewegungen können – genau wie unspezifische Kopfschmerzen oder Ohrgeräusche – auf eine Kieferfehlstellung zurückgehen. Zusammenhänge konnte auch hier die SHIP-Studie liefern.
Aber auch andere Forschungsergebnisse, wie aus der Universität Bonn, zeigen neue Zusammenhänge auf. Dass Diabetes mellitus die Entstehung und den Verlauf einer Parodontitis negativ beeinflussen kann, war bereits bekannt. Dass aber umgekehrt eine schwere Parodontitis zu einer verstärkten Insulinresistenz und schlechter Blutzuckerkontrolle führen kann, konnte erst in jüngerer Vergangenheit klinisch nachgewiesen werden. Auch kardiovaskuläre Komplikationen sind mit der Parodontitis verbunden. Inzwischen wird sogar vermutet, dass auch die Mortalität mit der Schwere der Entzündung des Zahnhalteapparates korreliert.
Daneben können sich altersbedingt Probleme im Bereich der Mundschleimhaut ergeben wie Mundtrockenheit in der Folge einer nachlassenden Leistung der Speicheldrüsen und geringerer Flüssigkeitsaufnahme im Alter. Geradezu alarmierend waren auch die Zahlen der jüngsten Deutschen Mundgesundheitsstudie in Bezug auf die Ausbreitung der Parodontitis, die der Karies als eine der führenden Volkskrankheiten den Rang abzulaufen droht. Speziell hier kommt der Pflege und der Prophylaxe im Alter eine herausgehobene Bedeutung zu. Dazu gesellen sich ganz neue Herausforderungen für die Gesellschaft. Der Berufsstand hat zu dieser Problematik mit einem eigenen Alters- und Behindertenkonzept Vorschläge für eine für diese Gruppen angemessene flächendeckende Versorgung geliefert, die allerdings noch immer ihrer politischen Umsetzung harren.
Neben den Zusammenhängen zwischen Erkrankungen des Mundbereiches und des übrigen Körpers nehmen diese Krankheitsbilder aber auch in stärkerem Maß Einfluss auf die tägliche Behandlung. Durch die Tatsache, dass das Durchschnittsalter der Patienten weiter zunehmen wird, sind bei zahnärztlichen Eingriffen vermehrt internistische Grunderkrankungen zu berücksichtigen und in die Planung einzubeziehen. Dazu gehören einerseits die bereits erwähnten Herzkreislauferkrankungen und die zunehmende Zahl von Patienten mit Herzklappenersatz, bei denen das Gerinnungsmanagement angepasst, eine Endokarditisprophylaxe bedacht und das Management der Lokalanästhesie überprüft werden müssen. Aber auch Nieren- und Lungenerkrankungen, Stoffwechselerkrankungen wie der Diabetes mellitus und Knochenerkrankungen wie die Osteoporose müssen bei der Planung invasiver zahnärztlicher Eingriffe im Hinblick auf medikamentöse Therapie und Prophylaxe berücksichtigt werden.
Wirksames Risikomanagement setzt genaue Kenntnisse über die Risikofaktoren voraus. Und dieses Wissen ist interdisziplinär. Die Zahnmedizin als integrativer Bestandteil der Medizin hat bei der Risikoerkennung und dem Risikomanagement eine verantwortungsvolle Aufgabe, der wir uns in der näheren Zukunft noch stärker stellen müssen. Denn dazu zwingt uns die gesellschaftliche Entwicklung.